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Demenz: Leben mit Demenzkranken


Demenz
"Plötzlich lief sie nackt durch die Wohnung"

Judith Féaux de Lacroix

Aktualisiert am 05.04.2011Lesedauer: 5 Min.
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Einen Angehörigen mit Demenz zu pflegen, ist ein Rund-um-die-Uhr-Job. (Symbolbild: dpa)Vergrößern des Bildes
Einen Angehörigen mit Demenz zu pflegen, ist ein Rund-um-die-Uhr-Job. (Symbolbild: dpa)

1,3 Millionen Menschen in Deutschland leiden an Demenz. Im Jahr 2050 wird sich diese Zahl verdoppelt haben, schätzt das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Mehr als die Hälfte aller Demenzkranken kommt nicht ins Heim, sondern wird zuhause gepflegt. Das bedeutet für die Angehörigen eine ungeheure Belastung - aber auch eine Bereicherung. Renate B. (67) hat ihre Tante Ella achteinhalb Jahre gepflegt - bis zu deren Tod. Sie war mehrfach kurz davor, aufzugeben. Trotzdem sagt die 67-Jährige heute: "Ich vermisse Ella." Hier erzählt Renate B., wie sie die Zeit der Pflege erlebt hat.

Ein Schlaganfall veränderte alles

Meine Tante Ella war 77, als sie einen Schlaganfall erlitt. Danach war klar, dass sie nicht mehr allein leben konnte. Ella brauchte Hilfe. Geistig war sie zwar noch fit, körperlich aber stark eingeschränkt. Ein Heim kam für mich nicht infrage: Ella war wie eine Mutter für mich. Sie hat mich mit großgezogen, hat später auf meine Kinder aufgepasst. Da meine Tante verwitwet war und keine eigenen Kinder hatte, beschlossen mein Mann und ich, die Pflege zu übernehmen. Doch auf was wir uns damit eingelassen hatten, wurde uns erst nach und nach bewusst. Damals ging alles so schnell. Zeit zum Nachdenken blieb nicht.

Sie zog Socken als Handschuhe an

Ich gab meine Arbeit als Taxifahrerin auf. Die Pflege meiner Tante war ein Rund-um-die-Uhr-Job. Anfangs war bei Ella von Demenz noch nichts zu spüren. Ich versuchte, sie so viel wie möglich am Leben teilhaben zu lassen, nahm sie sogar mit zu meinem Sportverein - natürlich nur zum Zuschauen. Ich wollte sie nicht verstecken. Erst langsam habe ich bemerkt, dass mit Ella etwas nicht stimmte. Am Anfang hat sie sich zum Beispiel noch selbst angezogen. Aber dann zog sie auf einmal die Hose als Pullover an und die Socken als Handschuhe.

Nächtliche Schreie

Von da an ging es stetig bergab. Ella fing an, wirr zu reden. Sie litt unter Angstzuständen, rief plötzlich "Hilfe, da ist ein großer Hund im Zimmer", obwohl der Raum leer war. Am schlimmsten war es nachts. Sie schrie ständig "Mama, Mama!" - immer wieder musste ich aufstehen, um sie zu beruhigen. Solange sie noch laufen konnte, stand Ella nachts auf, tappte im Dunkeln durch das Haus. Manchmal hat sie ihr ganzes Bett abgezogen und gesagt "Mein Erich ist da unterm Bett". Erich, Ellas Ehemann, war vor Jahren gestorben. Eine Nacht durchzuschlafen, war für mich und meinen Mann undenkbar. Schließlich haben wir ein Gitterbett angeschafft, damit Ella nachts nicht mehr allein aufstehen konnte. Auch das Schreien hörte irgendwann auf. Sie hat dann nur noch vor sich hin gebrabbelt, wie ein Baby.

Plötzlich wurde sie aggressiv

Ich musste mit ansehen, wie meine Tante, die mir einmal so vertraut gewesen war, mir immer fremder wurde. Das war furchtbar. Man kann es nicht beschreiben, man muss es selbst erlebt haben. Meine Tante aß mit den Fingern. Sie musste Windeln tragen. Früher hätte sich Ella geschämt, sich mir im Unterrock zu zeigen. Und nun zog sie sich plötzlich aus und rannte nackt durch die Wohnung. Ella, die früher immer so lieb gewesen war, wurde nun manchmal aggressiv. Ich hatte dann das Gefühl, dass sie auf mich losgehen wollte. Das waren zum Glück aber nur kurze Phasen. All das gehört eben zu dieser Krankheit dazu.

Sie nahm meine Hand, lächelte mich an

Es gab auch immer wieder schöne Momente. Wenn Ella meine Hand nahm oder die Arme nach mir ausstreckte, oder wenn sie mich anlächelte. Auch wenn ihr Erinnerungsvermögen immer mehr nachließ, schien doch manchmal etwas in ihrem Gedächtnis aufzublitzen. Ich hängte Fotos an Ellas Bett auf, von ihrem Mann, ihrer Schwester, den Enkelkindern. Dann zeigte ich auf eins der Bilder fragte "Ella, wer ist denn das?", und antwortete, "der Erich". Aber manchmal sagte sie eben auch: "Ich weiß es nicht." Ella hatte Schwierigkeiten, Menschen wiederzuerkennen, die sie längere Zeit nicht gesehen hatte. Wenn meine Tochter mit ihren Kindern zu Besuch kam, zum Beispiel. Aber auch mich erkannte Ella manchmal nicht. Sie schaute dann durch mich durch. Als wäre sie weit weg, in ihrer eigenen Welt.

Unsere Ehe hat das sehr belastet

Ich habe für die Pflege meiner Tante viel aufgegeben. Früher ging ich regelmäßig in die Sauna, schwimmen, radfahren. All das ging jetzt nicht mehr. Ich musste ja immer zuhause sein. Zwar schaffte ich es, einmal pro Woche zum Sport zu gehen, weil ich Ella dorthin mitnehmen konnte. Aber wenn wir auswärts Wettkämpfe hatten, war ich nicht dabei. Viele Freundschaften haben darunter gelitten. Es rief kaum jemand mehr an, Besuch kam auch nicht mehr. Ich habe mich isoliert - das passiert ganz automatisch, auch wenn man es nicht will. Auch unsere Ehe hat die Pflegezeit sehr belastet. Es drehte sich ja alles nur noch um Ella, sie stand immer im Vordergrund.

Austausch mit anderen Betroffenen hat mir geholfen

Ich habe mehrmals gedacht, dass ich es nicht mehr schaffe. Dass ich jetzt doch ein Heim für Ella suchen muss. Aber ich habe mich dann doch immer wieder dafür entschieden, weiterzumachen. Was mir geholfen hat, war eine Gruppe mit anderen Betroffenen, die auch einen Angehörigen pflegten. Wir haben uns regelmäßig getroffen. Ella konnte ich mitbringen, es gab immer zwei Gruppen: In der einen wurden die Pflegebedürftigen betreut, in der anderen konnten sich die Angehörigen austauschen. Es hat mir Mut gemacht, mit anderen zu sprechen, die ähnliches erlebten wie ich. Ich habe auch erfahren, wo es professionelle Beratung zur Pflege gibt und auf welche Hilfeleistungen ich Anspruch hatte. Anfangs dachte ich, jede Form von Hilfe muss ich bezahlen. Dabei werden viele Kosten übernommen. Ich wollte alles alleine schaffen. Aber das ist unmöglich. Später habe ich Ella zweimal pro Woche zur Tagespflege gebracht. So hatte ich ein paar Stunden Zeit, in denen ich einkaufen konnte oder das Haus in Ordnung bringen. Und wenn Ella zurückkam, war sie immer sehr gut gelaunt.

Zuwenig Unterstützung vom Staat

In den letzten Jahren ging es Ella immer schlechter. Sie verlernte zu schlucken und musste künstlich ernährt werden. Mit 86 Jahren starb sie an einer Lungenentzündung, achteinhalb Jahre nach ihrem Schlaganfall. Auch wenn die Pflege nicht immer einfach war - ich hätte Ella gern länger bei mir gehabt. Ich vermisse sie sehr. Mein Leben hat sich seit ihrem Tod verändert. Wenn ich jetzt zum Sport gehe, muss ich danach nicht gleich wieder nach Hause: Ich kann noch bleiben und mich unterhalten. Mit einer Freundin will ich jetzt auch wieder regelmäßig in die Sauna gehen. Nur eines ist geblieben: Ich treffe mich immer noch mit der Gruppe von pflegenden Angehörigen. Ich habe nicht bereut, dass ich mich für die Pflege meiner Tante entschieden habe. Aber eins war mir nicht klar: Wer pflegt und dafür seinen Beruf aufgibt, steht später fast ohne Rente da. Das, was ich heute bekomme, würde nicht ausreichen, um meine Miete zu zahlen. Wenn ich nicht verheiratet wäre, müsste ich zum Sozialamt gehen. Das muss der Staat ändern. Denn die Zahl der Menschen, die pflegebedürftig ist, steigt. Irgendwann werden Menschen unter diesen Umständen vielleicht nicht mehr bereit sein, ihre Angehörigen zu pflegen.

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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